Ukraine Charkow ![]() Kiev, Charkiv Bloß nicht aufregen: Die lange Reise des Steins von Mai 2004 bis Juni 2005 Bei meiner 1. Reise von Moskau nach Kiev/Ukraine im Mai 2004 zu einem internationalen Kongreß, verbrachte ich unversehens 14 Stunden auf dem Flughafen von Kiev. Man ließ mich nicht einreisen, da meine Sekretärin vergessen hatte, das erforderliche Visum zu beantragen. Ich flog dann unverrichteter Dinge wieder nach Moskau zurück, den Stein immer im Gepäck. Damals war mein Plan, den Stein im Kiever Zoo abzulegen. Inspiriert von Andrej Kurkovs Roman „Picknick auf dem Eis“, in dem sich der Protagonist Victor, ein Verfasser von Nekrologen (Nachrufe für prominente Personen, die allerdings noch nicht verstorben sind), kurzerhand aus Mitleid entschloß, den Königspinguin Mischa aus dem Kiever Zoo mitzunehmen, da dieser aus Geldmangel alle Tiere frei und somit in ein ungewisses Schicksal entließ. Kurkovs Roman, in dessen Verlauf sich zwischen Victor und dem Pinguin eine skurrile Beziehung entwickelt, handelt auf unterhaltsam-witzige Weise von der gesellschaftlichen Transformation vom alten in das neue Russland. “Innendrinnen ist ein Mechanismus kaputtgegangen und jetzt weiß man nicht mehr, was man von den vertrauten Dingen halten soll“. ![]() 1 Jahr später: Wieder mit dem Stein im Gepäck und wieder ohne Visum in der Zwischenzeit wurde die Visumspflicht für Europäer abgeschafft und obendrein fand im Winter 2004/05 die sogenannte „Revolution in Orange“ statt, gelang ich endlich unbehelligt nach Kiev und anschließend nach Charkiv, der zweitgrößten und ehemaligen Hauptstadt der Ukraine. Folgte man den Presseberichten und der ganzen Aufregung in Westeuropa, dann schien hier die Welt aus den Fugen. Nichts schien mehr, wie es mal war. ![]() Der Stein machte die Zweitagesreise durch die Straßen von Kiev mit und sah die Plätze der jüngsten politischen Ereignisse. Der Taxifahrer, der mir all diese Orte zeigte, sagte: „Im Grunde hat sich nicht viel geändert“. Die anschließende Reise gemeinsam mit meinem Freund Dmitri nach Charkiv, im Osten des Landes und fast an der Grenze Russlands liegend, bestätigte dieses Gefühl, dass im Grunde genommen, die Zeit stehengeblieben war. Schließlich entschloss ich mich, den Stein an dem überdimensional großen Lenindenkmal am Paradeplatz in Charkiv abzulegen. Lenin deutet mahnend in Richtung Westen und die starke Ambivalenz in diesem Land zwischen Ost und West schien mir eklatant. Aus mehreren mit Einwohnern geführten Gesprächen wurde deutlich, dass die Idee der persönlichen Freiheit einen hohen Wert darstellt, jedoch die Chance für das Land darin bestünde, gemeinsam mit Russland einen Modus der Koexistenz zu finden. ![]() Wie wird es wohl jetzt weitergehen in diesem Land, nach dem die 1. Ministerpräsidentin, eine der großen Hoffnungsträger der Revolution in Orange, nach nicht einmal einjähriger Amtszeit wegen Korruptionsaffären bereits abgesetzt wurde? Oktober 2005 Zafer Toker, Frankfurt/Main |