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Inhalt: Von der Magie des Augen-Blicks: Das Augenstein-Projekt aus der Perspektive der Jäger und Sammler. | PDF-Dokument Andreas Ackermann, 2006 DER LEIB DER ERDE, ALLSICHTIG GEMACHT Ein diskursives Geröllfeld zum Thema Augen, Steine, Augensteine Roland Held, 2006 Eröffnungsrede „Der Weg der Steine“ ein Projekt von Volker Steinbacher und Gerald Wingertszahn, in den Gassen des Alten Orts Neu-Isenburg, 4.Juni 2oo5 Roland Held, 2005 DER WEG DER STEINE zur Installation von Volker Steinbacher und Gerald Wingertszahn Bettina Stuckard, 2005 DER LEIB DER ERDE, ALLSICHTIG GEMACHT Ein diskursives Geröllfeld zum Thema Augen, Steine, Augensteine I. Von Jacques Callot, dem lothringischen Radierer des frühen 17.Jahrhunderts, bekannt durch seine realistischen Graphikzyklen zu den zeitgenössischen „Schrecken des Krieges“, gibt es ein Blatt, betitelt „Das wachsame Auge“. Man sieht darauf, inmitten arkadischer Wald- und Hügellandschaft, eine umzäunte, von einem Hund bewachte Herde, deren Mitglieder zu klein dargestellt sind, als daß sie sich mit letzter Sicherheit als Rinder oder Schafe bestimmen ließen. In unserem Zusammenhang wichtiger: im Vordergrund erhebt sich senkrecht ein schlanker Stecken, von dessen Spitze, sehr surreal, ein Auge samt näherem Kopfumfeld absteht, geöffnet, den Betrachter frontal fixierend. War es Callot zu tun um eine Allegorie der Wachsamkeit generell? Oder bezieht sich das emblematische Motiv auf eine bestimmte, uns unbekannte literarische Quelle? Deutet man den Stecken als selbstbeweglichen Wanderstab, wären dem Reisedrang des Auges theoretisch keine Grenzen gesetzt... II. Io, liebliche Königstochter und eine der unzähligen Amouren des Zeus, wurde von diesem selbst in eine Kuh verwandelt, als Zeus-Gattin Hera den Seitensprung witterte. Auf deren Befehl kam Io in die Obhut des Argus, dessen Leib über und über mit Augen bestückt war und der im Rufe stand, daß seiner Aufmerksamkeit nichts entgehen konnte. (Was aber nicht verhinderte, daß Zeus die Geliebte ab und zu in Stiergestalt bestieg.) Als Zeus-Sohn Hermes von Ios unwürdiger Situation erfuhr, lullte er, listig wie immer, Argus in den Schlaf und schlug ihm das Haupt ab. Zum Lohn für geleistete Hirtendienste und zur Erinnerung an die heimtückische Ermordung löste Göttermutter Hera behutsam die Augen von der Leiche und pflanzte sie in die Schwanzfedern des Pfaus. III. Im Naturreich genießen Augen einen hohen Aufmerksamkeitswert; Tiere wie Menschen sind von ihrer angeborenen Verhaltensausstattung her konditioniert auf sie. Die Augenzeichnung, die wir im Gefieder von Vögeln, auf den Flanken von Fischen oder den Flügeln von Schmetterlingen beobachten, dienen als Warnung und Abschreckung gegenüber Räubern. Zweiäugigkeit, sprich: Symmetrie, ist dabei verbreitet, doch nicht zwingend. Augenpaare als apotropäische, d.h. Abwehrsymbole tauchen häufig auf Schilden und Rüstungen, Häusern und Schiffen der sog. Naturvölker auf; seit mindestens der Jungsteinzeit schützt sich die Menschheit mit dem „Abwehrauge“ gegen den „bösen Blick“, ein tiefverwurzelter Glaubenskomplex, von dessen Spuren Volkskunde, Volksaberglaube, Volkskunst bis heute überquellen, namentlich in den mediterranen Ländern; und auf die Signalwirkung des Auges ist auch in den staatsoffiziellen und kommerziellen Zeichensystemen unserer Industriegesellschaft Verlaß weil Augen, egal ob Angebote machend oder Verbote setzend, nicht nur visuell leicht wahrgenommen, sondern psychologisch unmittelbar ernstgenommen werden. Die Grenze zwischen Augen-Manie und Augen-Phobie verläuft notorisch unscharf. IV. Aus der short story „The Tell-Tale Heart Das verräterische Herz“ von Edgar Allen Poe: „Ich kann nicht mehr genau sagen, wie mir zuerst der Gedanke kam, doch einmal gekommen, quälte er mich Tag und Nacht. Einen Zweck verfolgte ich nicht, auch trieb mich kein Haß. Ich hatte den alten Mann gern. Er hatte mir nie etwas Böses getan, er hatte mich nie beleidigt. Ich war auch nicht auf sein Gold aus. Nur sein eines Auge reizte mich. Ja, sein Auge muß es gewesen sein! Es glich dem eines Geiers blaßblau und von einem dünnen Häutchen bedeckt. Wenn sein Blick auf mich fiel, war mir stets, als gerinne das Blut in meinen Adern, und so entschloß ich mich denn allmählich, dem Alten das Leben zu nehmen, um mich auf diese Weise für immer von seinem Auge zu befreien.“ V. Stärker noch als das Augenpaar ist das einzelne Auge als Entstellung, Monstrosität, aber auch als Indiz für Unter- bzw. Übermenschlichkeit ein Faszinosum. Der Zyklop Polyphem, ein menschenfressender Oger und Verkörperung der Urgewalt der Natur, wird von der Mannschaft des Odysseus geblendet. In Asien dagegen öffnet sich das zyklopische Stirnauge als drittes, über dem Augenpaar der profanen Sicht, und steht für höchste Einweihungsgrade, für Weisheit, Heiligkeit, Göttlichkeit. Das Dreieck, das im Christentum die Dreieinigkeit symbolisiert, ist eigentlich ein uraltes, vorchristliches Augensymbol. Seit Renaissance und Barock erstrahlt aus ebendiesem Dreieck das einsame Auge Gottes auf Bildtafeln, über Altären, im Scheitel der Kirchengewölbe, um die Gläubigen daran zu erinnern, daß Gott allsehend, allwissend, allgegenwärtig ist. „Gott hat keine Augen, Gott ist Auge“ (Paul Gräb). Auf jeder US-Dollarnote abgedruckt findet sich das ins Räumliche gewachsene Dreieck: die Pyramide, gekrönt vom weltdurchdringenden, weltbeherrschenden Sehorgan. VI. Doch auch auf der anderen Seite der Zweizahl sind Entdeckungen zu machen. Nicht nur als Namenspatron für Detektivbüros hat Argus sich der abendländischen Kultur, über den Untergang der griechisch-römischen Welt hinaus, empfohlen. Der Vision in Hesekiel I, 10 folgend, hat mittelalterliche Kunst, insbesondere die Buchmalerei, gerne die Scharen der Cherubim und Seraphim herabbeschworen mit mehrfachen Gesichtern und Flügeln, letztere von Augen starrend wie die Nacht von Sternen. Ja, es gibt den Begriff „heterotopische“ Augen, weil diese auftauchen können auf sämtlichen Körperteilen der Engel und sonstiger Figuren übernatürlicher Macht, wie wir es etwa aus dem um 1165 entstandenen „Scivias-Codex“ der Hildegard von Bingen kennen. Ebenso kann sich gelegentlich die Macht des Satans verraten durch eine Vielzahl Augen schließlich kommt auch ihm eine Art Allsichtigkeit in Verfolgung seiner finsteren Ziele zu. Interessanterweise hat das ikonographische Motiv eine Wiederaufstehung erlebt im Werk des Malers Ernst Fuchs, Vertreter der Wiener Schule des Phantastischen Realismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg auf sehr eigene Weise darum rang, religiöse Kunst für die Gegenwart zu schaffen. Zum Besten des später zu Recht in den Ruch hochfliegenden Kitsches Geratenen gehören seine „Cherubsköpfe“ der sechziger Jahre. Angeregt gleichermaßen durch die Lektüre der Evangelien und Propheten, durch Traum- und Drogenerfahrungen, zeigen die betreffenden Bilder Gesichter und Körper von edelsteinhaft funkelnder Oberfläche, die wie aus Tropfen zusammengesetzt sein mögen, aber auch aus unzähligen Augen, auf denen je ein Schlaglicht schwimmt. Über „Grüner Cherub (Malach)“ schreibt Fuchs: „Die schillernde Alläugigkeit beherrscht diesen Kopf.“ Und zur ganzen Werkserie erklärt er rückblickend: „Die Einheit von Stein, Juwel und Fleisch ihre gleichartige ‚Köstlichkeit’ als Extremität, als besonders reflektive, durchleuchtbare Materie wurde mir verständlich: Das Auge ist der Opal des Fleisches, das Kostbare im Fleisch, wie der Opal das Auge des Gesteins ist, das Kostbare der Erde. Ich begann die Leibartigkeit der Planeten, die wie etwa der Leib des Menschen beschaffen ist, zu verstehen.“ Mineralisches und Organisches durchdringen einander in dieser seltsam heidnischen Auffassung von „urengelhaften“ Wesenheiten bis zur Identität. VII. Aus den Fragmenten des Novalis: „Sollten die Weltkörper Versteinerungen sein? Vielleicht von Engeln.“ VIII. Über „schillernde Alläugigkeit“ zu verfügen, kann Auszeichnung sein, aber auch Fluch. Die Vervielfachung eines Organs, die Loslösung von seinem angestammten Platz und Verteilung über viele neue Plätze birgt stets die Gefahr totaler Dissoziation, Desintegration. Eine Metapher für Wahnsinn. Kein Wunder, wenn in den bildnerischen Hervorbringungen der Geisteskranken Augen-Fixiertheit ein häufiger Zug ist: zu den bereits erwähnten heterotopischen Augen, die bindungslos über den Körper von Mensch und Tier vagabundieren, können sich heterotopische Gesichter gesellen, die einzeln oder gruppenweise dort erscheinen, wo sie nicht hingehören; Augen starren, glotzen, „fletschen“ nicht minder denn Zähne, zerfleischen ihr Opfer förmlich moralisch durch unverwandte, indiskrete, strafende Aufmerksamkeit (der allsehende Gott, ins heimsuchende Extrem getrieben); noch in scheinbar harmlose abstrakte Ornamente schleichen sich Punkte ein, die sich selber unmissverständlich zu Pupillen, die umschließenden Schleifen zu Augen ausrufen. Die Dokumente aus psychotischen Schüben stimmen da überein mit denen aus psychedelischen Rauschzuständen. Zu den teilweise großformatigen, in ungemeiner Detail-Hingabe dicht mit Mustern und Figuren, Schrift- und Notenzeilen bedeckten Blättern, die der verkrachte Knecht und Tagelöhner Adolf Wölfli zwischen 1900 und 1930 in der Anstalt Waldau bei Bern ausführte, gehört „St. Adolf Kuss, Riesen-Fonttaine“: eine Ringburg aus konzentrischen Ovalen und Kreisen, lesbar als Auge, mit einem maskierten Köpfchen als Pupille in der Mitte. Oder als querliegende Mandorla. IX. Regelfall in der Kunstgeschichte ist, aus naheliegenden Gründen, die Zweiäugigkeit. Die kann durchdringend, bannkräftig genug sein. Ein roter Faden zieht sich von den farbig gefaßten Porträtplastiken der Ägypter über die späthellenistischen Mumienbildnisse aus der Oase Fayum zur Ikonen-Malerei östlicher wie westlicher Provenienz. Lange bevor das Auge zum Fenster der individuellen Seele wurde, war es Fenster auf die unerreichbaren Fernen einer herrscherlichen bzw. göttlichen Instanz. Nochmals: wenn auf Mosaiken oder Fresken der Christus Pantokrator seinen Auftritt hat, dann im allerdings aufrechtstehenden Auge der Mandorla. X. Wie sehr das Auge stellvertretend für Macht und Identität eines weltlichen oder himmlischen Herrschers agiert, zeigt der Bildersturm, der sich nach seiner Entthronung gegen die Augen wütender als gegen den Rest seines Leibes richtet auf sämtlichen Abbildungen, deren die Vertreter der neuen Ordnung habhaft werden können. XI. Um dem Publikum eine Ahnung von der Fülle ihrer Schätze zu geben, warb eine der führenden öffentlichen Sammlungen der Republik vor einigen Jahren mit einem Plakat, das von vielen ausgewählten Menschenbildern jeweils ein Auge wiedergab. Fragment nur und doch so charakteristisch, so sprechend, daß man unschwer die Epoche, den Maler, oft sogar das betreffende Werk erriet. XII. In mancher Hinsicht ist die Renaissance noch die Krönung und erst der Manierismus die Überwindung des Mittelalters. In seinem die mentale Verwandtschaft von 16. und 20. Jahrhundert unterstreichenden Buch „Die Welt als Labyrinth“ resümiert Gustav René Hocke: „Während unserer Forschungen fiel es uns immer wieder auf, welche Rolle das Auge, und zwar das einzelne Auge ... in der manieristischen Kunst damals und heute spielt.“ Klassiker der Moderne, für die das Auge, ob jetzt isoliert oder paarig, bevorzugter Ausdrucksträger war: Jawlensky, Picasso, Klee, Miró, de Kooning, Nay, Antes, Penck; bei den Surrealisten wie den Malern der CoBrA-Gruppe, teils auch bei den Vertretern der Neuen Figuration und der Jungen Wilden kann von einer regelrechten Augen-Besessenheit geredet werden. Niemand, der den von Luis Buñuel und Salvador Dali gemeinsam ausgeheckten Film „Ein andalusischer Hund“ gesehen hat, wird, lebenslang, die Schock-Szene vergessen, in der ein Rasiermesser das weitgeöffnete Auge einer jungen Frau horizontal zerschneidet des Menschen königlichstes Organ, das gleichzeitig sein verwundbarstes ist. XIII. Ganz offenkundig handelt es sich bei den Augen auf Volker Steinbachers Augensteinen nicht um die realistische Repräsentation je eines Auges (wo wären da Lid, Wimpern, Brauen, die konsequente Unterscheidung von Iris und Pupille, die anatomische Kenntlichmachung des nasen- und des schläfenzugekehrten Augenwinkels?). Trotzdem ist das Motiv eindeutig. Folglich muß es sich um ein reduziertes Schema von, ein Zeichen für „Auge“ handeln, vom Urheber und seinen Helfershelfern am Steinfundort Mirabel systemtreu nicht individuell, sondern seriell in die Welt gesetzt. So aber ist es auch, an keine spezifische Sprache oder Kultur gebunden, der ganzen Welt verständlich. „Es gibt keine Analphabeten des Bildes“ (Franz Herrmann Wills). Ganz offenkundig geht es weniger um die ästhetische Wirksamkeit als um die und sei es hypostasierte Wirkkraft des Auges. XIV. Das Weg der Steine-Projekt hat eine öffentliche, zeitgenössisch-politische Seite, aber auch eine archetypische, fast hermetische. Gewiß, ein Aspekt der global ausgreifenden Aktion ist, daß von nun an kein Übeltäter, egal, wie hoch oder niedrig innerhalb der Befehlskette angesiedelt, mehr darauf vertrauen kann, daß seine Handlung unbeobachtet bleibt. Little Brother is watching you! Aber um darin auch nur ein Quentchen Hoffnung für die Zukunft der Welt zu investieren, braucht es einen Glauben, der hinter dem von Amuletträgern, einschlägig Tätowierten oder den Anbringern von glückbringenden, unglückwehrenden Augensymbolen auf Ladenschildern, Türen, Schiffsbügen, Autos etc. kaum zurücksteht. Die Augensteine versuchen ihre Kraft noch einmal aus der Sphäre des Magischen, Apotropäischen heraus zu beziehen. Sie setzen, eine veritable Herde von Hirten, ihren „guten Blick“ gegen den bösen Blick der Mächte, die es zum Zwecke der Unterwerfung, ausbeuterischen Gleichmachung, Selbstbereicherung auf unseren Globus abgesehen haben. XV. In puncto überbordender Faktenreichtum sucht seinesgleichen das die Brücke von der Verhaltensforschung zur Kulturwissenschaft schlagende Werk „Urmotiv Auge“ (1975) von Otto Koenig, der anmerkt: „Es gibt Leute, die sich von jeder Reise einen landschaftstypischen Stein mitbringen, um solcherart eine Beziehung zur betreffenden Örtlichkeit aufrechtzuerhalten. Diese Vorgehensweise mutet bereits ‚magisch’ an, obwohl sie es vorerst überhaupt nicht ist. Sie kann es jedoch bei entsprechender geistiger Disposition ... werden.“ Steinbacher kehrt solche zentripetale Vorgehensweise um. Basalt-, Kalkstein- und Ziegelbrocken, typisch für einen bestimmten Flecken in der südfranzösischen Provinz, gehen auf Reise in alle Richtungen der Windrose, um ihren Dauerplatz zu finden an idealiter 197 Örtlichkeiten, deren es jedoch realiter bereits wesentlich mehr gibt Tendenz unendlich? XVI. In einer Epoche, da Satellitenkameras aus dem All die Erde räumlich und zeitlich engmaschig kontrollieren (doch im Dienst welcher Herren?!), webt das Weg der Steine-Projekt noch einmal ein Netz mithilfe des urtümlichsten Menschheitswerkzeugs. XVII. Nicht im Augen-Spiel und Augen-Drama der klassischen Malerei und Bildhauerei sollte man Präzedenzfälle suchen. Eher mag das von Steinbacher angestoßene Unternehmen bei aller Verschiedenheit des Maßstabs im nachhinein ein wenig Licht werfen auf die Dynamik der jungsteinzeitlichen Ausbreitung von Megalith-Denkmälern im Mittelmeerraum, Nordeuropa und Vorderasien, später anzutreffen auch in Afrika, Indien, Ostasien, Ozeanien, Amerika. Ein schier globales Phänomen, getragen von keiner einheitlichen Kulturgruppe oder Religion und dennoch voll rätselhafter Übereinstimmungen. In der Gegenwart lassen sich Parallelen finden zu den Installationen von Anne und Patrick Poirier aus dem Kontext der Individuellen Mythologien, oder zu den Wanderungen und Steinsetzungen eines Richard Long, Vertreter der Land Art. Und was die Absicht betrifft, durch künstlerische Anstöße auf politisch-gesellschaftlichem Gebiet wirksam zu werden, gibt es Bezüge auch zu Joseph Beuys, z.B. dessen berühmtem „7000-Eichen“-Projekt (wozu bekanntlich auch 7000 Basaltstelen gehörten) anläßlich der documenta 7, 1982, in Kassel. Zwei Jahre danach kommentierte Beuys es so: „Die wahre Begründung der Aktionskunst ist das Bewegungselement. Und zwar nach Möglichkeit überallhin. Es ist auch das Moment der Bewegung gemeint, wenn Bäume gepflanzt werden ..., nämlich daß sich ein Zeitwesen, ein Lebenszeitwesen, eine Zeitmaschine, wie es ein Baum ist, in jeder Sekunde bewegt gegenüber einem starren Gebilde. Der steht ja auch daneben, der Stein.“ XVIII. Anders freilich ist das Verhältnis von Zeitwesen und Dauerwesen, beweglichem und starrem Partner in Volker Steinbachers Weg der Steine-Projekt. Schon das Wort „Augenstein“ verrät, daß sie ineinsgebracht sind, das halb-abstrakte Zeichen und der höchst konkrete Gegenstand. Es bedarf keines Opals, um das mineralische Reich endlich ein Auge aufschlagen zu lassen! Lange bevor der Weg der Steine am Ziel angekommen ist, hat der Globus etwas vom mit „heterotopischen“ Augen gewappneten Leib der Cherubim und Seraphim angenommen, glänzt er vor „Alläugigkeit“ wie Argus, ist er vom blinden zum Augenwesen geworden. XIX. Und wenn Regen und Staub, wie vom Urheber eingeplant, die Augen eins ums andere von ihren steinernen Trägern gewaschen haben, heißt das, daß die Augen müde werden, einschlafen, nachlassen in ihrer Wachsamkeit? Oder nicht vielmehr, daß der Stein selber herangereift ist, bereit zur Übernahme, hineingewachsen in die Funktion des „guten Blicks“? Postskriptum: Laut dpa-Meldung vom 21.6.2006 hat auf einer Versteigerung in New York das Porträt „Adele Bloch-Bauer I“ des Malers Gustav Klimt für 135 Millionen Dollar (107 Millionen Euro) den Besitzer gewechselt die höchste Summe, die je für ein Gemälde gezahlt worden ist. Erworben hat es der Kosmetikhersteller Ronald Lauder für seine New Gallery in Manhattan. Das von 1907 datierende Bildnis einer Repräsentantin des Wiener Jahrhundertwende-Großbürgertums zeigt eine Brünette, die uns, schlank und blaß und mit eckiger Armpose, aus einem luxuriös strukturiertren Umfeld von Goldgrund und ornamentalem Dekor entgegentritt. Ihr Kleid trägt ein Muster aus Dutzenden stilisierter Augen, von denen keines dem anderen gleicht. © Dr.Roland Held, Darmstadt 2006 Eröffnungsrede „Der Weg der Steine“ ein Projekt von Volker Steinbacher und Gerald Wingertszahn, in den Gassen des Alten Orts Neu-Isenburg, 4.Juni 2oo5Mehrfach haben in den letzten Jahren die Medien uns, meine sehr verehrten Damen und Herren, informiert über die bestürzenden Fälle deutscher Touristen, die in Ländern des Vorderen Orients bei der Wiederausreise festgehalten, verhört, wochenlang in Haft genommen worden sind, weil sie im Gepäck einen Stein bei sich trugen. Der mußte nicht mal von einer ehrwürdigen Ruinenstätte stammen; er konnte auch, ganz harmlos, bei einem Strandspaziergang aufgelesen sein. Der Verdacht allein ist ausreichend. Wofür man ein bißchen Verständnis aufbringen sollte: was seit Napoleons Zeiten an Kunstschätzen allein aus Ägypten, der Türkei, Griechenland, auf krummen Wegen außer Landes geschafft worden und in westlichen Museen und Privatsammlungen gelandet ist, ist immens. Und wird die internationalen Gerichtshöfe wohl noch ein paar Jahrhunderte beschäftigen. Merkwürdig unproblematisch dagegen scheint es, einen Stein in ein fremdes Land einzuschmuggeln. Und dort, wenn es einem behagt, an just den Orten zu deponieren, die zum UNESCO-Kulturerbe der Menschheit gehören. Zum Beispiel Borobudur. Als ich vor zwei Jahren, im Rahmen einer beruflichen Reise, der aus dem 9.Jahrhundert datierenden Tempelanlage im Herzen der indonesischen Hauptinsel Java einen Besuch abstatten konnte, erfüllte ich mir persönlich einen alten Traum. Aber in der Tasche trug ich auch eine Ziegelscherbe mit einem einsamen, aufgemalten Auge. Und im Sinn trug ich meinen Auftrag: das Objekt so zu plazieren, daß es einerseits standfest ruht, andererseits über eine gute Aussicht verfügt. Ich glaube, ich fand einen geeigneten Platz. Auf den oberen der immer schmäler werdenden Terrassen, in die das die kosmische Ordnung spiegelnde Heiligtum gegliedert ist, befinden sich viele glockenförmige Häuschen (Stupas), von regelmäßig durchbrochener Bauweise, so daß man die darin befindlichen Buddhastatuen sehen, ja sie berühren kann. Seit zwölfhundert Jahren halten sie ihre Meditationshaltung ein, geduldig den Strahlen der Äquatorialsonne ebenso trotzend wie den Sturzbächen der Regenzeit, und das offenbar ohne nennenswerte Muskelverspannungen. Sanft und weich wirken besonders die im Lotussitz nach oben gekehrten Fußsohlen. Auf eine solche legte ich in einem unbeobachteten Moment meine Scherbe nieder, so, daß ihr Auge, je nach Laune, den Buddha betrachten kann oder die vorbeistolpernden Touristen oder den nördlich von Borobudur sich erhebenden Vulkan. Jeder hier auf dem Platz weiß, in wessen Auftrag ich mit der bemalten Scherbe unterwegs war. Ich oute mich damit gerne als einer von denen, die Volker Steinbacher seine „Überbringer“ nennt, weil sie alle ein Stück dessen durchmessen haben, was dann insgesamt sein „Weg der Steine“ ist. Ein weltumspannendes Projekt, genauer gesagt: von vornherein als Projekt einer Weltumspannung konzipiert. Es existiert und funktioniert, wie ich behaupte, auf drei unterschiedlichen Ebenen. Als meine Aufgabe heute abend erachte ich es, Ihnen, meine Damen und Herren, diese drei Ebenen darzulegen, im systematischen Nacheinander, aber auch im geistig vernetzten Ineinander. Bleiben wir vorerst auf der Ebene der buchstäblich harten Fakten. Der Weg der Steine nahm seinen Ausgang von einem vermischten Haufen Kalk-, Basalt- und Ziegelsteine, den Volker Steinbacher ich gebe jetzt der Versuchung zu einem Wortspiel nicht nach den Volker Steinbacher vorfand 1998 auf einem Pleinair-Aufenthalt im südfranzösischen Mirabel, wie ihn das Künstlerhaus Ziegelhütte in Darmstadt jeden Spätsommer durchzuführen pflegt. In einer anschließenden Ausstellung wird dann jeweils vorgeführt, was die aus ganz Deutschland, Polen, Ungarn und anderswoher eingeladenen Künstler während der Pleinair-Zeit geschaffen haben. Nun handelt es sich falls jemand es noch nicht weiß bei Steinbacher um einen gestandenen Maler und Druckgraphiker, in dessen Schaffen das Augenmotiv gelegentlich schon aufgetaucht ist. Und mit geologischen Prozessen hat seine Arbeitsweise, wo Schichtungen, Farbüberflutungen, Risse und Verwerfungen von Collagematerial eine große Rolle spielen, auch manche Ähnlichkeit. Trotzdem war ihm nicht bewußt, was er da anstieß, als er beides zusammenführte und, unterstützt von mehreren Künstlerkollegen, begann, einen Bruchteil der Steine mit aufgepinselten Augen zu versehen, die es in dem zur Hälfte aus dem Ruinengeröll von vielen Jahrzehnten Landflucht bestehenden Cevennen-Dörfchen Mirabel nun mal in Fülle gibt. Mag sein, daß ihn instinktiv zunächst das darin liegende Paradox reizte: das Zusammenführen von Mineralischem und Organischem, von vermeintlich Tumb-Taub-Totem und sensorisch höchst Empfindsamem, von Dauerhaftem und Vergänglichem. Gib einem Stein ein Auge, und Du erweckst ihn zum Leben! Man denke nur einmal daran, wie virulent in den Mittelmeerländern bis heute die Sitte ist, sich mit einem Augen-Amulett zu schützen gegen den bösen Blick! Der Initiator selbst sagt im Rückblick dazu: „Wenn man eine blöde Idee nicht gleich beiseite legt, sondern über ihre Gründe nachgrübelt, kann eine richtig gute Idee daraus werden. Sie muß nur eine Form finden. Und dazu braucht es Zeit.“ Als erstes bemerkte Volker Steinbacher, wie fasziniert seine Bekannten zuhause, aber auch das allgemeine Kunstpublikum auf die vom Pleinair mitgebrachten Steine reagierten, wie bereitwillig sie ihm abgenommen, ins häusliche Ambiente verbracht und dort, im Zweifelsfall an strategischem Punkt, aufgestellt wurden. Er begriff bald, daß dem unermüdlich geöffneten Auge eine Wächterfunktion beigelegt wurde, irrational vielleicht, aber psychologisch deshalb nicht weniger wirksam. Wieviele Detektivbüros führen in ihrem Logo das Argusauge! Etwas vom animistischen Glauben unserer Vorfahren, der in unbelebten Objekten geistige Kräfte am Walten sieht, hat offenbar ins uns überlebt. Geistige Kräfte, die in ortsfesten, großen Steinen wie denen der Megalithkultur verehrt wurden, sich aber auch konzentrieren konnten in kleinen, mobilen Stücken. Es gibt Indizien dafür, daß schon der Urmensch vor 500.000 Jahren Steine von ästhetisch auffälliger Gestalt aufhob und von Lager zu Lager mit sich führte. Der erste gezielt in ein anderes Land verbrachte Augenstein war der, den Volker Steinbacher eigenhändig 2001 in Usbekistan ablegte. Es waren die Tage um den 11.September, und Steinbacher gehörte zu denen, die trotz der Entfernung vom Schauplatz des Attentats spürten, daß etwas von weltgeschichtlicher Bedeutung sich zusammenzubrauen begann. Das gab dem Projekt seinen Schub in die entscheidende, auf grenzüberschreitende, globale Dimension angelegte Richtung. In seiner offiziellen Vita, wo die diversesten Projekte mit ihrem Durchführungsort angeben sind, steht hinter „Weg der Steine“: Planet Erde. Bepflastert haben den Weg der Steine seither viele, viele willige Überbringer, die mit ihrer in jede Hosentasche passenden Fracht in Steinbachers Auftrag in alle Richtungen der Windrose gefahren sind: touristisch Reisende ebenso wie Stewardessen, Geschäftsleute, Mitarbeiter der Reisebranche, sogar Botschaftsangehörige. Sie wurden aktiv von Ägypten bis Zypern, im Petersdom und in Mekka, in 6000 Meter Höhe auf einem Gipfel der Kordilleren und in drei Meter Tiefe vor einem Korallenriff im Roten Meer, an Orten und, wie Volker Steinbacher schmunzelt, auch an Unorten. Aber das zählt die Leinwand vollständiger auf, als ich es kann. Am 22.Mai 2005 jedenfalls lautete der vorläufige Stand: in 102 Staaten der Erde von insgesamt 197 ist ein Augenstein angekommen. Das Projekt endet, wenn sämtliche Staaten erfaßt sind eine mineralogische UNO sozusagen. Man kann den Weg der Steine einer Art Pilgerschaft vergleichen. Nur vollzieht sich der Umgang mit dem konkreten Stein exakt umgekehrt. Wir kennen den Brauch, an markanten Zwischenstationen oder am Endziel einer Wallfahrt Steine niederzulegen auf dem spanischen Jakobsweg habe ich das oft beobachtet. Wir kennen die Kiesel auf jüdischen Grabsteinen. Wir kennen von Pfaden und Pässen im Himalaya die riesigen Ansammlungen von Wackern, Mani-Steine genannt, in die Segens- und Gebetsformeln eingemeißelt sind. Beim Weg der Steine indes fließt der ganze Fundus von einem Ort hinaus in die Welt; es wird zerstreut statt gesammelt; die Augensteine begeben sich hin unter alle Völker, wie es ähnlich in der Bergpredigt im Neuen Testament heißt. Etwas, wenn nicht rundheraus Missionarisches, so doch auf Weltveränderung, Weltverbesserung Zielendes ist mit dem Weg der Steine tatsächlich verbunden. Denn wenn man die von den Überbringern letztlich stets selbst ausgesuchten Aufstellungsorte in Kategorien einteilt, trifft man auf der einen Seite zwar Privates, Intimes, Einsames, Naturhaftes bis Romantisches: jede Menge Bäume, Berggipfel, Strände, Inseln. Es gibt Tempel, Klöster, Museen, kulturelle Zentren, Gräber von prominenten Personen als Stätten geistiger Einkehr. Nicht zu vergessen all die Fälle, wo der Augenstein zum Wächter eines Privathauses oder -gartens erhoben worden ist. Auf der anderen Seite jedoch steht eine ganze Reihe Stein-Kuriere, deren Wahl auf einen Ort gefallen ist, wo sich öffentliche, politische, historische Ereignisse abgespielt haben oder Entscheidungen immer noch gefällt werden: die Eiche von Guernica; die Brücke von Mostar; die Bahngleise von Auschwitz-Birkenau; die Potemkin-Treppe in Odessa; das Denkmal zum armenischen Völkermord in Eriwan; ein Allee-Randstreifen gegenüber dem NATO-Quartier in Brüssel. Wer sich solche Orte auswählt, tut dies, da bin ich mir sicher, in der bewußten oder unbewußten Absicht, den Wächter-Aspekt der Augensteine zu nutzen, um altes und neues Unheil zu bannen. Auch, um den Mächtigen wie den Machtlosen zu demonstrieren: ihr steht unter Beobachtung, die Zeugen eurer Taten und Leiden sind allgegenwärtig. Über einen ganz anderen Stein, den weißen Marmor nämlich des „Archaischen Torso Apollos“ im Louvre, schrieb Rilke einst etwas, das mir jetzt einfällt: „...denn da ist keine Stelle,/die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“ Nun führt es uns auf die zweite der von mir angekündigten Ebenen, auf welchen der Weg der Steine präsent ist, wenn ich als seine Besonderheit herausstelle, daß er das archaische Material Stein, das archetypische Symbol Auge mühelos versöhnt mit aktuellster Technologie. Denn nicht nur gibt es die fotografischen und schriftlichen Dokumente, die die einzelnen Etappen des Wegs bis in die entlegensten Winkel der Welt illustrieren, von Steinbacher zum Nachschlagen versammelt auf CD. Mit Hilfe des Computer-Cracks und Web-Designers Gerald Wingertszahn hat er seinem Projekt auch eine Website im Internet gesichert, so daß das global aufgestellte Unternehmen „Weg der Steine“ mit allen relevanten Daten, dem eigenen Geiste getreu, für Interessierte global zugänglich und abrufbar ist. Und die dritte Ebene verkörpert gleichsam eine Mischung des Reellen und des Virtuellen. Es ist die Ebene, in deren Zentrum wir uns gerade aufhalten, genau hier auf dem Neu-Isenburger Marktplatz. Volker Steinbacher hat sich den Traum verwirklicht, den jedes Kind träumt: nämlich den Ort, wo es geboren ist, zum Mittelpunkt der Welt ausrufen. Das bot sich deshalb an, weil der Grundriß der hugenottischen Altstadt der orthogonalen und diagonalen Gliederung der Windrose folgt und sich übertragen läßt auf die Projektionskarte der gesamten Welt. Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt? Denn wer heute wachen Auges durch die Straßen des Neu-Isenburger Ortskerns spaziert ist, dem wird nicht entgangen sein, daß die Straßennamen zwar wieder französisch lauten wie einst, nach 1750. Jedoch nicht mehr „rue de Francfort“, „rue de Sprendlingen“, etc., sondern benannt nach geradezu antipodisch fernen Städten und Plätzen: Spitzbergen, Khabarowsk, Pjöngjang, Auckland, Kap der Guten Hoffnung, Kap Hoorn, Hawaii und zuletzt der Zungenbrecher Seyðisfjörður. Es sind dies jeweils die innerhalb der acht Sektoren der Windrose am weitesten gelegenen Punkte, zu denen hin es die Steinbacher’schen Augensteine verschlagen hat. Mit Namensschildern Erwähnung getan ist an den Straßenlaternen Alt-Neu-Isenburgs jedoch jedem einzelnen vom Weg-der-Steine-Projekt bisher erreichten Staat, je nach Sektor mal dichter, mal lockerer. Die kleine Welt einer Stadt spiegelt modellhaft die große, und umgekehrt verhält es sich auf der Karte, die Steinbacher in den Katalog gebracht hat. Das alles und die darin liegende Möglichkeit, aus Anlaß eines von außen gekommenen Gedankens einmal Ortsgeschichte heraufzubeschwören, freilich durch schöpferische Phantasie verwandelt, muß gewesen sein, was die Stadtoberen und insbesondere Kulturamtsleiterin Bettina Stuckard zum Weg der Steine bekehrt hat, ohne daß dornenreiche Überzeugungsarbeit geleistet werden mußte. Im Gegenteil, die Neu-Isenburger Plattform des Projekts konnte in der für jeden, der schon mit Behörden zu tun hatte, unglaublich kurzen Spanne eines halben Jahres zurechtgezimmert werden. Für Volker Steinbacher ist das Gesamtprojekt daher ein Gemeinschaftswerk, wenn auch basierend auf seinem Konzept. Ein politisches, ein poetisches, ein partizipatorisches Werk, das ihn speziell deswegen mit Stolz erfüllt, weil zu ihm mittlerweile mehrere hundert Menschen gratis beigetragen haben, einfallsreich, mit Form- und Fingerspitzengefühl ihre Detailentscheidung treffend, Menschen unterschiedlicher Sprache, Nationalität, Hautfarbe, Religion. Es stimmt in einer Zeit, wo so oft der Krieg der Kulturen an die Wand gemalt wird, optimistisch, daß diese Menschen sich, entzündet von ein und derselben künstlerischen Idee, jeder mit seiner Reiseroute, seinem Reiseziel, dennoch auf einem gemeinsamen Weg begegnen können. Es wäre daher nicht zu viel gesagt, den Weg der Steine als einen Anstoß zur globalen Kommunikation zu beglückwünschen.
© Dr.Roland Held, Darmstadt 2005
DER WEG DER STEINE zur Installation von Volker Steinbacher und Gerald Wingertszahn Steine, Steine, Steine, wohin das Auge blickt. AugenBlick mal. Die Steine schauen zurück! Augen auf Steinen, wohin der Blick auch fällt. Vielleicht war der Stein einmal Bestandteil einer Trutzburg, wurde von einfachen Bauern in Fronarbeit herbeigeschleppt und zu einer Mauer verbaut, erlebte, wie die Burg erstürmt und die Mauer geschliffen wurde. Der Stein in meiner Hand macht mich nachdenklich. Er wird noch sein, wenn ich nicht mehr bin. Was wird er nach mir sehen? Die Idee, überall auf der Erde „AugenSteine“ abzulegen und die Steine für einen kurzen Moment einer bewussten Betrachtungsweise auszusetzen, ist der faszinierende Ausgangspunkt eines Kunstprojektes des Frankfurter Künstlers Volker Steinbacher und des Webdesigners Gerald Wingertszahn. Die Beiden lassen auf dem ganzen Erdball Steine ablegen. Damit die Steine „sehen”, wurde ihnen ein Auge aufgemalt. Die Überbringer, Reisende aller Art, wählen einen Ort aus und legen den Stein ab. Jeder Stein, seine Position und Umgebung, wird dokumentiert. Der Stein bleibt, sein Auge aus Tusche wird beim nächsten Regen verschwinden. Von Nischnij Nowgorod nach Tahiti, von Kap Hoorn nach Seyðisfjörður auf Island in jedem zweiten Staat dieser Erde wurden mittlerweile AugenSteine abgelegt. Was sie sehen, davon erzählt die Installation Volker Steinbachers im Alten Ort. Rund 130 Dokumentationen der Reisenden über den Blick ihrer AugenSteine werden in den Gassen Neu-Isenburgs ausgehängt. ![]() Die Steine, die zur Aktion verwendet werden, stammen aus dem französischen Cevennendorf Mirabel. Auch hier lässt sich eine Verbindung zum Isenburger Urgestein, den Hugenotten, ziehen. Tatsächlich gab es hier eine Burg, die im Zuge der Religionskriege zerstört wurde. Ob AugenSteine aus den Trümmerresten geworden sind? Wer weiß. Vergangenheit und Gegenwart heben sich im WEG DER STEINE ebenso auf, wie räumliche Begrenzungen. Zu Zeiten der Stadtgründung erhielten die Gassen der Hugenottensiedlung französische Namen. Sie bezeichneten die Richtungen, in die die Straßen zeigten. So gab es eine Rue de Offenbach, eine Rue de Sprendlingen, eine Rue de Francfort und eine Rue de Four. Die kleinen Gässchen hießen einheitlich La Ruelle. Volker Steinbacher greift diese Idee in seiner Installation auf und gibt den Straßen wieder französische Namen. Dieser Namen bezeichnet nun den Ort, in dem ein AugenStein abgelegt wurde und der am entferntesten in der jeweiligen Himmelsrichtung liegt. Die Bewohner der Pfarrgasse wohnen nun in der Rue du Khabarovsk, das Brionsgäßchen wird zur Rue de Pyong-Yang, die Hirtengasse zur Rue d’Auckland, das Nollgässchen zur Rue du Cap, die Kronengasse zur Rue du Cap Horn, das Luftgäßchen zur Rue d’Hawaii und die Löwengasse zur Rue de Seyðisfjörður. Wer will, kann also im Sommer von Neu-Isenburg aus einen Spaziergang in die Welt machen. In jeder Gasse wird ein Blick in die Welt geboten. Der Blick geht vom Bascamp am Fuß des Mount Everest nach Teheran, vom Cap Hoorn nach Sarajewo, wo noch vor kurzem die Scharfschützen lagen. Der steinerne Blick ist nicht immer freundlich. Die Welt, wie sie sich jetzt darstellt, wird vom Tuscheauge aufgenommen und weiter vermittelt. Schon morgen wird alles ganz anders sein. Das Tuscheauge wäscht sich im Regen ab, der Stein bleibt, ewiglich, irgendwo. Die AugenSteine sind Botschafter. Sie übermitteln einen Blick in die Welt. Sie tragen, in dem sie hinausgeschickt werden in die Welt, eine Botschaft mit sich. Nachdem der Regen das Auge abgewaschen hat, ist die Botschaft nicht mehr eindeutig entzifferbar. Der Stein wird einer unter vielen sein. Der Stein erlangt Anonymität. Das eigentliche Kunstwerk findet auf der ideellen Ebene statt. DER WEG DER STEINE wählt in seiner Ausdrucksform zwar einen materiellen Träger, ist aber Idee und Vorstellung, die in der Umsetzung durch Computer und Internet festgeschrieben wird. Die Dokumentationen der AugenSteine erfolgt in Bildern und Texten, die im Internet unter www.wegdersteine.de abgerufen werden können. Bettina Stuckard im Frühjahr 2005 |
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